19.03.24
 

Aus dem früheren Königshof Wormsalt ist damit im 14. Jahrhundert das Reichsdorf Wursulden geworden. Es ist, wie andere Dörfer in der Umgebung, mit der Stadt Aachen und ihren Behörden aufs engste verbunden dafür sorgt schon die gemeinsame karolingische Vergangenheit. Dafür sorgt aber auch eine kaiserliche Urkunde Ludwigs IV. aus dem Jahre 1336 in der den Aachener Bürgern bestätigt wird, dass „diese innerhalb der Bannmeile der Stadt Aachen gelegenen Dörfern mit all ihrem Zubehör und ihren Bewohnern euch und der Stadt Aachen, wie sie es bis heute waren, ankleben und vereinige bleiben“. Und am Ende der Urkunde versichert Ludwig IV. feierlich „Wenn aber jemands, wer es auch sein mag von uns oder unseren Vorgängern unter irgendeinem Vorwande oder irgendeiner Form eine Urkunde erhalten hat, welche der gegenwärtigen widerspricht, so widerrufen dieselben und entkräften sie ganz und gar. Und das um des Friedens, der Ehre und des Vorteils des Reiches wegen.“ Nun ist zwar nicht ganz klar, welches Reich Ludwig im letzten Satz der Urkunde meint, möglicherweise das deutsche, dessen Herrscher er ist. Aber fortan existiert ein neuer Begriff in der Geschichte des Aachener Landes, der sich von nun an als Name für die Stadt Aachen und die Reichsdörfer einbürgert und Eingang in alle Urkunden findet; das Aachener Reich.

Die zum Aachener Reich gehörenden Gemeinden in der Umgehung der Stadt waren nach „Quartieren" eingeteilt. Drei von ihnen Würselen, Haaren und Weiden lagen rechts der Wurm und galten als die „Quartiere over Worm". Zwei weitere befanden sich am linken Wurmufer, Orsbach und Berg, das heutige Laurensberg. Zu diesen fünf Quartieren kam später als sechstes noch das Quartier von Vaals, dessen Name noch heute an die damalige Zugehörigkeit zum Aachener Reich erinnert: Vaalserquartier.

Das Würselen Quartier bestand aus den Dörfern Elchenrath, Grevenberg, Morsbach, Scherberg, Schweilbach und Würselen selbst, während Drisch, Haal, Oppen und Dobach damals zum Weidener Quartier gehörten.

Unter der Regierungshoheit des Aachener Rates waren die Würselener also Untertanen des Aachener Reiches geworden. Von Beginn an sehen wir die Reichsbauern als Leute, die die gleichen Rechte besaßen wie die Reichsstädter selbst - mit einer Ausnahme: Das volle Bürgerrecht blieb ihnen verwehrt und damit auch die Möglichkeit, sich an der Regierung des Aachener Reiches zu beteiligen. Aber waren sie auch zur Regierung nicht zugelassen, zugelassen waren sie als gleichberechtigte Reichssassen zum Steuerzahlen Wein-, Bier- und  Mehlsteuer belasteten sie im gleichen Maße wie die Bürger der Stadt, und der Rat achtete streng  darauf, dass nicht etwa (steuerfreies) auswärtiges Bier oder landfremden Schnaps getrunken wurden.

Hinzu kamen Grund- und Gewerbesteuer und vor allem in Kriegszeiten zahlreiche Sondersteuern. Für viele Ländereien musste außerdem der Zehnte an die Kirchen und Stifte entrichtet werden, der Lehnspfennig an den Lehnsherrn war fällig, und einmal im Jahr verlangte auch noch der Aachener Rat seinen „Maischatz“. Man sieht, an Gelegenheiten, die Taschen zu leeren, war schon damals kein Mangel.

Rechnet man noch die Quartierslasten und die mannigfachen Hand- und Spanndienste in Kriegszeiten hinzu, so kann man verstehen, dass die Bauern mitunter gegen  erneute Belastungen aufbegehrten und der Aachener Magistrat seine Stadtsoldaten ausschicken musste, um die Steuern einzutreiben.

Die erste Nachricht über Kriegsleistungen des Würselener Quartiers für das Aachener Reich stammt aus dem Jahre 1385. Damals wurde die Raubritterburg Reifferscheit belagert; und „Pauwele van Scherberch war nach alten Protokollen „10 dage myt 4 perden“ dabei auf Seiten der Belagerer.

In Jahrhunderten stellte Würselen im Aachener Reich die meisten wehrfähigen Männer. Die Waffenträger des Würselener Quartiers bildeten eine Kompanie, die „Schützerei“, die unter einem Hauptmann stand. Aus der Schützerei Würselen bildete sich 1624 die Sebastianus-Schützenbruderschaft.

War die Belastung der Dörfer durch Steuern und Kriegsdienst auch recht beträchtlich, so brachte ihnen die Zugehörigkeit zu dem größeren Schutzverband des Aachener Reiches andererseits auch großen Nutzen. Zwar konnte der Rat der Reichsstadt als Landesherr die Reichsdörfer durchaus nicht immer vor kriegerischen Überfällen und Gewalttaten brandschatzender Söldner schützen. In vielen Fällen erhielten die Reichsdörfer aber wenigstens eine Wiedergutmachung für den entstandenen Schaden, der vom Quartiervorsteher beim Magistrat angemeldet wurde.

Hier ist es nun an der Zeit, eine Amtsperson in die Geschichte einzuführen, deren Namen zunächst etwas merkwürdig klingen mag: den „Hunnen“. Der Hunne, der an der Spitze eines jeden Quartiers stand; war ursprünglich Vorsteher einer dörflichen Hundertschaft oder „Hunnschaft, woher auch sein Name abgeleitet ist.

In den damaligen Quartieren versah er das Amt, das heute sein Bürgermeister oder Stadtdirektor ausübt oder beide. Seine Vollmachten waren entsprechend groß, und doch gab es einen entscheidenden Unterschied: Der Hunne wurde nicht von den Einwohnern es Quartiers gewählt, sondern vom Aachener Rat, dem eigentlichen Regierungsorgan des Aachener Reiches, ernannt. In den einzelnen Dörfern des Quartiers standen dem Hunnen die Dorfmeister zur Seite; die für die örtliche Durchführung der Gesetze und Befehle des Rates verantwortlich waren. Sie wurden von den Bewohnern der Dörfer selbst gewählt, ebenso wie die übrigen Kirchen- und Gemeindebeamten der einzelnen Quartieres Für diese Wahlen, die jeweils am Aschermittwoch stattfanden, gab es im Quartier Würselen fünf Wahlbezirke.

Gewählt wurden - ein Kirchenmeister, der nicht nur die Kirchen-, sondern auch die Gemeindekasse und das Armenvermögen verwaltete, ein Forstmeister, ein Feldschütze, der die Polizeidienste versah und dafür von jedem Bauern auf drei Morgen Land eine Garbe Getreide erhielt, und schließlich der Küster. Er hieß damals noch „Offermann“ und wurde gleichzeitig als Gerichtsbote eingesetzt. Es verstand sich von selbst: dass alle für ein Gemeindeamt Auserwählten eingesessene, angesehene und achtbare Leute sein mussten, eine Voraussetzung, die durch alle Zeiten streng beachtet wurde.

Die Anteilnahme der Bürger an der Selbstverwaltung ihres Quartiers zeigte sich indessen nicht nur beim jährlichen Gemeindewahltag, sondern vor allem an den Gerichtstagen, an denen auch Gemeindeangelegenheiten behandelt wurden. Das gilt besonders für das Synodal- oder Sendgericht, dem ursprünglich als kirchlicher Gerichtsbarkeit nur die Rechtsprechung in Dingen des Glaubens und der Sitte zukam. So war denn auch der Vorsitzende des Sendgerichtes stets der Ortspfarrer. Ihm zur Seite standen ehrenamtlich tätige Schöffen, die in Würselen für eine Amtszeit von sieben Jahren gewählt wurden.

Mit dem Erstarken der Sendgerichte greifen ihre Vorsitzenden und die Sendschöffen immer häufiger in die Gemeindeverwaltung ein. Besonders wichtige Gemeindeangelegenheiten wurden in eigens einberufenen öffentlichen Versammlungen, den „Kirchenständen“, verhandelt. Mitunter ging die Erörterung weltlicher Angelegenheiten in den Kirchenständen allerdings der Geistlichkeit zu weit - dann nämlich, wenn die religiösen Pflichten darunter zu leiden drohten. So beklagt sich im Jahr 1613 der Würselener Pfarrer Bont bitterlich darüber, dass die Teilnehmer an den Kirchenständen „bisweilen der weltlichen Geschäfte halber während der heiligen Messe bei dem Drunk sitzen bleiben und Ärgernis geben“.

Das Einmischen der Sendgerichte in die Verwaltung der Quartiere musste früher oder später das Missfallen des Aachener Rates erregen. Vor allem in den Quartieren „over Worm“, deren relative Selbständigkeit durch die Zugehörigkeit zur Diözese Köln begünstigt wurde, drohte die Verwaltung immer mehr den Händen des Rates und ihres Hunnen zu entgleiten und auf die von den Bürgern gewählten Schöffen überzugehen.

Der Aachener Rat verfolgte diese Entwicklung mit äußerstem Unbehagen. Er hatte in der Vergangenheit wiederholt versucht, seine landeshoheitliche Stellung zu einer Einflussnahme auf die Eigenverwaltung und sogar auf die Besitzungen der Quartiere auszudehnen. Besonders bei ihren Eigentumsrechten an den wertvollen Waldgebieten mussten die Quartiere stets vor den Ausdehnungsgelüsten des Aachener Rates auf der Hut sein.

Wegen der Besitzrechte kam es häufig zu schwierigen Rechtsstreitigkeiten zwischen Aachen und Würselen, die bis vor das Reichskammergericht getragen wurden. Aber nicht nur auf juristischem Wege gerieten die streitenden Parteien aneinander, die Auseinandersetzungen nahmen mitunter auch weniger feine, dafür aber umso handgreiflichere Formen an. So wurde 1527 ein Aachener Ratsdiener in Dobach erschlagen. 1664 gar wollten sich drei Aachener Stadtsoldaten den Würselener Bürger Johannes Becker mitten aus einer Prozession herausgreifen, aus welchem Grund, ist nicht bekannt. Bekannt dagegen ist das böse Ende dieser Aktion: Die Aachener Stadtsoldaten wurden von den erbosten Prozessionsteilnehmern windelweich geprügelt und mussten unverrichteter Dinge wieder umkehren.

Als 1681 die Streitigkeiten zwischen dem Rat und den Reichsdörfern wieder einmal einen Höhepunkt erreichten, schien für die Bauern in den Quartieren „over Worm" das Maß endgültig voll zu sein. Einträchtig versuchten Würselen, Weiden und Haaren sich aus dem Aachener Reich und damit aus der Abhängigkeit von Aachen zu lösen und Untertanen des Herzogs von Jülich zu werden. Ausgerechnet des Jülichers! Als ob man in Aachen nicht schon genug Ärger mit den machthungrigen Herren aus Jülich gehabt hätte! In diesem Fall siegte jedoch die politische Klugheit des Herzogs von Jülich über seinen Ehrgeiz. Unter den gegenwärtigen politischen Verhältnissen erschien ihm zu gewagt, das Anerbieten der abtrünnigen Quartiere anzunehmen. Denn es war vorauszusehen, dass weder der Aachener Rat noch der Kaiser diesen Gebietswechsel unangefochten hinnehmen würden. Würselen gehörte also, eben wie Haaren und Weiden weiterhin zum Aachener Reich, es blieb keine andere Wahl.

Der Einfluss der Sendgerichte auf die Verwaltung der Quartiere jedoch wurde immer stärker. Sie sind im 17. Jahrhundert das eigentliche kommunale Verwaltungsorgan, und sie verstehen es, sich der Mitwirkung der Quartiervorsteher, die jetzt nicht mehr Hunnen sondern Kapitäne heißen, der Dorfmeister, der Kirchenmeister, der Feldschütze und der Forstmeister bei der Durchführung ihrer Anordnungen zu bedienen. Natürlich kann der Aachener Rat diese Entwicklung nicht tatenlos mit ansehen. Er holt zu einem Schlag gegen die Sendgerichte aus, schränkt zunächst ihre Zuständigkeit als Organ der gemeindlichen Selbstverwaltung ein und hebt schließlich 1758 die Sendgerichte in den Quartieren ganz auf, wobei er den Reichsuntertanen befiehlt, sich nur an das „allein privilegierte“ Aachener Sendgericht zu halten. Dieser Befehl findet in Würselen schärfste Ablehnung. Der Vorsitzende des Würselener Sendgerichtes beantwortet ihn damit, dass er die höchstzulässige Strafe jedem androht, der sich unterstehen sollte, „gegen unser Sendgericht zu rebellieren und nach dem Sendgericht auf Aachen zu gehen“. Die höchstzulässige Strafe, das war der Verlust der Gemeindezugehörigkeit mit all ihren Folgen für den Betroffenen. Schon in den vorangegangenen Jahrhunderten hatte das Würselener Sendgericht stets sehr empfindlich reagiert, wenn man ihm seine Vorrechte und seine Selbständigkeit nehmen wollte und Würselener Einwohner vor ein anderes Sendgericht geladen werden sollten. Im Jahre 1479 erging sogar die bedrohliche Weisung, jeden Boten, der mit einer brieflichen Ladung vor einen auswärtigen „Send“ oder gar mit der Androhung kirchlicher Strafen käme, zu fangen. „Und er soll den Brief essen, und man soll eine Grube machen und soll den Menschen hineinlegen und Erde auf ihn werfen, bis er tot ist.

In dem ständigen Tauziehen behielten die Würselener immer wieder die Oberhand. Ihr Sendgericht wurde am Ende sogar durch die Kölner Kurie als rechtmäßig bestätigt. Der „Send" konnte unter dem Vorsitz des Pfarrers mit seinen sieben Schöffen weiterhin in der Kirche tagen - „under der Kronen“ - unter dem Kronleuchter, Recht sprechen und, so bitter es den Aachener Rat auch ankommen mochte, die gemeindliche Selbstverwaltung des Quartiers stärken. Aber so groß die Selbständigkeit einzelner Quartiere mit den Jahren auch wurde, das Aachener Reich mit der Stadt Aachen und den umliegenden Reichsdörfern blieb unter der Oberhoheit des Aachener Rates als politische Einheit unangetastet.

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